Kurz vor halb Sieben marschiere ich los zur U-Bahn-Station Klinikum. Der Maulwurf nimmt mich freundlicherweise bis zur Station Jakobinenstraße mit, wo ich dann ein wenig nostalgisch werde, habe ich doch in der Gegend ungefähr 10 Jahre gewohnt. Ich bin rechtzeitig unterwegs, daß bedeutet, daß ich im Treppenhaus der Kofferfabrik noch warten darf, bis wir alle eingelassen werden.
Einlass 19:05 und es ist gut daß wir innen warten dürfen, weil es draußen regnerisch ist. Aprilwetter und ich habe keinen Schirm dabei. Einfach tiefenentspannt.
Im Klinikum Lange Straße, also der Kofferfabrik, wende ich mich sogleich an die Notaufnahme.
Ich gebe meinen Einweisungsschein ab und bekomme einen Stempel auf den Handrücken und auf dem linken Handgelenk wurde mir auch sogleich sicherheitshalber ein Zugang gelegt. Weil es eben so ist:
Willy Michl’s Blues geht Intravenös, direkt von der Bühne in die Blutbahn.
Ich habe einen schönen Platz neben der Theke mit hohem Fluchtpotential, sitze hier im dicken Pullover und mit einem blauen zerfranstem Schal, den brauch ich, der Schal tut mir einfach gut. Da drauf bin ich stolz. Alles wunderbärchen.
Und die Atmosphäre ist schon ohne Musik inspirierend.
Bar-Theke, Weissenoher, Plakate an den Wänden.
Auf der Bühne leuchtet eine alte schrabbelige, gelbe Stehlampe. Über Michl’s Stuhl ist ein großes Schaffell gebreitet.
Rechts über mir sind ein paar präparierte Fischköpfe und ein Hirschgeweih mit Büstenhaltern und Strapsen dekoriert.
Höchst anmutig.
Ich habe 10 Euro dabei, kann mir gerade noch ein paar Bierchen kaufen, doch für die neu herausgekommene Biografie reicht’s nicht, auch nicht für eine CD.
Die Wände der Koffer sind mit Plakaten längst vergangener Konzerte dekoriert.
Willy mit Sonnenbrille und Bandana tigert durch die Reihen und sucht den Fotografen.
Im Hintergrund spielt leise Musik. Die Susi am Tresen schenkt sich die Finger wund und hat mir ein süffiges Weissenoher gezapft – und das Geld langt noch für mehr. Halb Acht, langsam füllt sich die Koffer.
Das Publikum ist in etwa meine Altersklasse, alte Freaks, alte Hippies, ein paar Oberlehrer mit weißem Haar. Graue Eminenzen.
Wenn man zu den kleinen Fenstern rausschaut kann man die alten Grundig Firmengebäude erkennen, die nun mehrere Unigebäude und ein Max-Planck-Institut beinhalten, denn noch ist es dämmrig.
Cora Michl sitzt vorne an ihrem Tischchen mit den CD’s und Büchern – ganz in schwarz, ziemlich viel Frau, mit einem herrlichen Schmollmund.
Das ist das dritte Jahr in Folge. Immer Ostersonntag. Immer allein.
Als Bühnenbild dient eine bayerische Flagge mit bunten Federn und Tüchern geschmückt. Daneben eine Pacefahne. Pace. Pacem. Frieden. Krieg – Krieger – Frieden – Friedener. Da kommt der Friedener. Michl kommt. Sonnenbrille. Ein Bandana um die Stirn. Das Bandana ist sehr wichtig, genau so wichtig ist es, daß das Bandana tief in die Stein gezogen ist. Blues. Blues. „Blue Es“, so wie die Shoshonen sagen. Brüchige Stimme. Schräger harmonisch disharmonischer Blues. Die Finger sind noch kalt. Der Konzertsaal ist klein aber warm, es ist eher ein Konzertzimmer. Die Guitar ist laut. Nein, nicht zu laut, einfach intravenös angelegt.
Michi hat auch wieder ein bisschen zugenommen und kommt einem Sumiringer verdächtig nahe.
Nach dem zweiten Lied hat er uns. Er stimmt seine Gitarre und erzählt. Stimmen und erzählen.
Eine Naturgewalt. Ein Lavastrom heizt uns ein. Er ist direkt mitten in meinem Herzen. Ein alter Mann – eine alte Stehlampe – ein alter Verstärker – eine alte Gitarre.
Die Skiwasser auf den Knappenhäusern haben ihn in die Karriere gepuscht. Eine sehr lange Geschichte.
Er erzählt uns bei Bluesmeldoien von dem Kennenlernen seiner Eltern und von seiner Zeugung.
Brunhilde Michl, die Akkordeonspielerin, die für die GI’s in Augsburg gespielt hat, ist im November 2017 gestorben, der Vater schon länger. Aloha ’oe – wir singen alle mit und Aloha ’oe („Im Angesicht des Atems Gottes stehen“) hängt wie Schwermut über unseren Köpfen. So denken wir alle, gemeinsam mit Willy an seine Mutter, die den Blues schon an den damaligen Embryo weitergegeben hatte.
Sie alle, die und vorausgegangen sind, werden uns abholen, wenn es soweit ist.
Erst ein violetter Steinmarder, dann eine weiße Gämse und schließlich das kosmische Unkenwesen. Wir erschaudern und versuchen uns mühsam zu fangen: Willy spreche doch Englisch und könne mit den Außerirdischen sicherlich verhandeln, dass Willy mit seiner Frau statt mit ihm die galaktische Reise antrete. Man brauche im Weltraum doch keine Schafhirten, weil es dort keine Schafe gibt??!
Er erzählt von seiner damaligen Englischlehrerin Mrs. Thielsons. Und singt das Leibinger Birnenlied, daß zu einem Schulverweis führt. Danach gibt es endlose 27 Minuten Pause.
Zweites Bierchen. Subkultur. Ich bin äußerst dankbar, daß ich dabei sein darf. Weiter geht‘s. Willy back on Stage.
Er singt, was ihm die Geister ins Herz gelegt haben.
Let me wrap you in my warm and tender love, yeah
Let me wrap you in my warm and tender love
Oh, i loved you for a long, long time
Darling, please say you’ll be mine.
Der Meister Percy Sledge ist also wieder auferstanden.
Traumwanderer. Madeleine.
„Wanka Tanka – oeh oeh oeh“ – 30 Minuten lang dieses – „Wanka Tanka – Oeh Oeh Oeh“ – ein endliches Perpetuum mobile.
Willy gibt keine Zugabe, dafür Wanka Tanka – „oeh, oeh, oeh“.
Es ist inzwischen 23 Uhr und – Aus die Maus!
Bismillahi rahmani rahim. Ask olsun.
Danke für diesen Abend – Sound Of Thunder